Europa muss künftig mehr für seine Sicherheit und Verteidigung tun. Das hat Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bei der Tiergartenkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung angemahnt. Angesichts des Ukrainekrieges sagte Lambrecht, Europa müsse mehr eigene Antworten auf seine Sicherheitsfragen geben. Das bedeute auch, dass die Europäer selbst wirksamer abschrecken müssten.
Bei dem Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin bezeichnete Verteidigungsministerin Christine Lambrecht ihr Ministerium als eine „Herzkammer der Zeitenwende“. Vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges, des anlasslosen Überfalls Russlands auf die Ukraine, bekomme das Militärische im Denken der Europäer einen neuen Stellenwert. An der Frage des Militärischen werde sich der neue Begriff „Zeitenwende“ möglicherweise entscheiden.
Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sei genau das, was die Truppe jetzt brauche, um ihren Kernauftrag Landes- und Bündnisverteidigung erfüllen zu können. Gleichzeitig gelte es, die Strukturen im Beschaffungswesen effektiver zu gestalten, so Lambrecht. Sie erklärte: Mit der Zeitenwende und damit verbunden dem neuen Stellenwert des Militärischen gehe es um nicht mehr und nicht weniger als um einen der größten Mentalitätswechsel seit Jahrzehnten. Dass das Militär erst ganz zum Schluss der Prioritäten stehe, dass man es stiefmütterlich behandele, das sei nun vorbei, machte Lambrecht unmissverständlich deutlich.
Bei der militärischen Sicherheit nahm die Ministerin besonders die „gemeinsame Sicherheit Europas“ in den Blick. Es bestehe kein Zweifel daran, dass traditionell die NATO auch künftig für die gemeinsame Sicherheit in Europa stehe. Die Allianz habe auch in Zukunft die Hauptrolle. Deswegen, so die Ministerin, begrüße sie es auch sehr, dass mit Schweden und Finnland zwei weitere EU-Mitglieder in die NATO strebten. Denn Finnland und Schweden seien gut aufgestellt für die NATO.
Bei alledem aber machten es die Veränderungen in der Welt schon lange nötig, dass die Europäer über die NATO hinausdenken müssten. In diesem Kontext erinnerte die Ministerin an die Belastungen und Ungewissheiten, die die Politik des damaligen US-Präsidenten Donald Trump für die Europäer und die transatlantischen Beziehungen bedeutet habe. Diese Zeiten seien „fragil und gefährlich“ gewesen, so Lambrecht.
Und alle sollten bedenken, dass diese Zeiten zurückkehren könnten, gab Lambrecht zu bedenken. Im Übrigen richteten die USA mehr und mehr ihre Aufmerksamkeit auf den indopazifischen Raum. Daher könnten sie möglicherweise künftig nicht mehr in gewohnter Weise den Fokus auf Europa setzen. Deshalb betonte die Ministerin: „Europa muss mehr eigene Antworten auf seine Sicherheitsfragen geben.“
Wenn in Europa über militärische Sicherheit gesprochen werde, könne das nur „gemeinsame Sicherheit“ bedeuten. „Kein Land kann – und darf – mit Alleingängen Sicherheit herstellen.“ Russlands Krieg gegen die Ukraine zeige aufs Neue, wenn Europäer zusammenhielten, seien sie am stärksten. Lambrecht unterstrich ausdrücklich: „Europa braucht Handlungsfähigkeit, braucht ability to act!“
Auf dem Weg zu diesem Ziel sei in den vergangenen Jahrzehnten schon manches erreicht worden. Von der Aufstellung der EU-Battlegroups bis hin zur festen sicherheitspolitischen Orientierung aktuell mit dem strategischen Kompass: Die EU habe ihre Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik definiert.
Und sie habe dafür Institutionen geschaffen, nämlich den EU-Militärstab und die Europäische Verteidigungsagentur. Und sie habe Programme aufgelegt: von der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCOPermanent Structured Cooperation, Permanent Structured Cooperation) über den Koordinierten Jahresbericht zur Verteidigungsplanung (CARDCoordinated Annual Review on Defence, Coordinated Annual Review on Defence) bis hin zum Europäischen Verteidigungsfonds.
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Umso mehr aber betonte die Ministerin bei ihrer Rede: Die Europäische Union habe es trotz einer Reihe wichtiger EU-Militär-Missionen bislang noch nicht geschafft, zu einem militärischen Akteur zu werden, der mit seiner hard power die strategischen Überlegungen möglicher Gegner verändere. Bei Wirtschaftskraft, Marktmacht, Regulierungskraft sei das etwas anderes. Da sei Europa stark, sogar geopolitische Großmacht. „Beim Militär eben noch nicht“, sagte Christine Lambrecht. Das sei kein Selbstläufer. „Wir wollen das nun verändern.“
Das aber werde ein langer, steiniger Weg. Diese Anstrengungen seien noch nie so dringlich wie heute gewesen. Es gebe auf dem Feld der europäischen Sicherheit- und Verteidigung eine neue Ambition Europas, das deutlich stärker werde im Verbund. „Ich glaube, es ist jetzt die Zeit“, unterstrich Lambrecht.
Die Mitglieder der Europäischen Union hätten als Antwort auf Putins Angriff nicht nur Sanktionen gegen Russland beschlossen. Sie hätten auch Milliarden Euro als direkte militärische Finanzhilfe auf den Weg gebracht, damit die Ukraine sich besser bewaffnen könne. Lambrecht sagte weiter: „Gleichzeitig gibt es einige wichtige Initiativen, die etwas bewegen sollen. Zum Beispiel, den Plan, nicht nur gemeinsam zu forschen und zu entwickeln wie bisher, sondern auch gemeinsam zu beschaffen.“ Und das mit konkreten finanziellen Anreizen zu unterlegen. „Wenn wir dann gemeinsam einen Hubschrauber oder ein Fahrzeug beschaffen, könnten wir konkrete Unterstützung aus der EU bekommen“, so die Ministerin.
Hierfür sah sie beispielsweise für die Kooperation mit anderen EU-Staaten beim Projekt Eurodrohne ganz neue Möglichkeiten. In Sachen europäischer Beschaffung und Rüstungskooperation werden die Verteidigungsministerinnen und -minister der EU künftig regelmäßig bei dazu eigens anberaumten Treffen zusammenkommen und darüber beraten. Ziel sei es, europäische Vorhaben auf dem Feld der Sicherheit und Verteidigung weiter voranzutreiben, so die Ministerin.
Was Europa brauche, sei eine starke europäische Verteidigung komplementär zu einer starken NATO. Dazu bedürfe es dringend einer noch feiner aufeinander abgestimmten und verzahnten Fähigkeitsplanung zwischen NATO und EU. „Wir müssen aufhören, kleinklein zu denken“, brachte es die Ministerin auf den Punkt. „Das ist das Gebot der Stunde.“
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