Uwe Wiemken, ehemaliger Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen (INTFraunhofer-Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen), formuliert im Nachgang zum Weißbuch-Workshop „Perspektiven Bundeswehr in der Gesellschaft“ sieben Thesen aus der Sicht von Naturwissenschaft und Technik mit Blick auf ihre Implikationen für Gesellschaft und Bundeswehr.
Vor allem die zivile Technikentwicklung verändert die Gesellschaft, der Veränderungsdruck und der Wandel werden nicht aufhören!
These 1: Die naturwissenschaftlich-technische Forschung hat mit der Erfindung der Planartechnik/Mikroelektronik (Ende der fünfziger Jahre) technisch einen qualitativen Sprung und den „Übergang in die Informationsgesellschaft“ ausgelöst. Es entstanden globale Massenmärkte (Leistungsexplosion und Preisimplosion), deren Eigendynamik die Gesellschaft grundlegend verändert. Diese Dynamik hat sich stark fördernd und umfassend auf die empirische Forschung (in allen Ausprägungen – nicht nur in den Naturwissenschaften) ausgewirkt. Die Abgrenzung zwischen den klassischen Disziplinen/Fakultäten löst sich zunehmend auf und Neues entsteht zwischen den Disziplinen. Technik spielt seither eine herausragende Rolle für grundlegende Facetten des gesellschaftlichen Lebens und der politischen Entscheidungsprozesse. Zunehmend kommen neue ethische Grundfragen in den Fokus der Gesellschaft, die eine Grundlage in technischen Fähigkeiten haben.
These 2: Die herausragenden planerisch relevanten Schwerpunkte der langfristigen technologischen Entwicklung sind:
Neue technologische Entwicklungen im Einzelnen:
Sicherheitspolitik ist grundsätzlich eine Facette der „Staatsräson“ und (noch) nicht durch „positives“ Recht geregelt!
These 3: Die technische Entwicklung geht einher mit hohem Veränderungsdruck auf die Gesellschaft und führt auch und insbesondere zu einem grundlegenden Paradigmenwandel für die Sicherheitspolitik. In Erweiterung der „klassischen“ Szenarien (gemäß Grundgesetz) entwickeln sich mit immer kürzeren Vorwarnzeiten neue Szenarien und Missionen. Die strategischen Rahmenvorgaben wandeln sich von „wesentlich statisch“ (GDP) zu „zunehmend dynamisch“, von „Anpassung des Grundmodells“ zu „Revolution in Military Affairs“, von „Abschreckungsstreitkräften“ zu „Einsatzstreitkräften“. Die derzeit realen Missionen der Streitkräfte wandeln sich von „Kriegsmissionen“, wie sie im Kalten Krieg antizipiert wurden, zu Missionen, die immer mehr den Charakter von „Polizeimissionen++“ annehmen und die (zunächst) inhärent „asymmetrisch“ sind.
These 4: Innere und äußere Sicherheit können nur noch gemeinsam wahrgenommen werden. Die vorhandene und die neu entstehende Technik lässt sich nicht mehr sinnvoll in „zivil“ und „militärisch“ trennen, sondern bildet ein breites Spektrum von „Enablern“, die für die Sicherheitsvorsorge der Gesellschaft relevant sind, und die geeignet sind, einem Konfliktgegner „seinen Willen aufzuzwingen“. In den siebziger Jahren sprach man noch von „spin-off“, und seit 20 Jahren werden eher die Begriffe „dual use“, „add-on“, „customizing“ und „Militarisierung“ verwendet. Man muss davon ausgehen, dass „High-Tech“ keine Domäne der Militärtechnik mehr ist (eine relevante Ausnahme könnte die ITInformationstechnik-Forschung für Cyberwar-Szenarien sein, bei denen aber auch keine Unterscheidung in zivil und militärisch möglich ist).
Die Bedrohungslage für die offenen Gesellschaften wird variabler!
These 5: Durch die jeweils dramatisch kurzfristig ablaufenden Entwicklungen vor allem im Internet und in den sozialen Netzwerken ergeben sich neue Verwundbarkeiten und Bedrohungen.
Zielfindung ist eine langfristig angelegte Gesellschaftsaufgabe!
These 6: Die langfristige Zielfindung der Gesellschaft ist kein „top-down-Prozess“ mehr (Bedarfsträger – Bedarfsdecker), sondern muss als vernetzter Feedback-„Regelkreis“ betrachtet werden (top-down – bottom-up) mit strategisch-konzeptionellem und technischem Blickwinkel.
These 7: Eine Entscheidungsunterstützung durch wissenschaftliche Beratung muss einerseits von der Wissenschaft selbstkritisch wahrgenommen werden (in Analyse und Einstufung ihrer „planerischen Belastbarkeit“), und die Entscheidungsträger dürfen sich andererseits nicht „auf ein wissenschaftliches Gutachten“ (oder auf ein Urteil des Verfassungsgerichts oder einer niedrigeren Instanz) berufen, um sich der politischen Verantwortung zu entziehen. Bewusstes Rollenverständnis von „Handlungswelt“ und „Werte-, Wahrheits- und Wissenswelt“ muss entwickelt und kommuniziert werden.
– mit strategischer Geduld, aber zielorientiert –
Die offenen Gesellschaften müssen ein vorausschauendes Bewusstsein für die weiterhin tiefgreifende gesellschaftsverändernde Wirkung der Technik entwickeln. Sie müssen den Diskurs darüber pro-aktiv in die Gesamtgesellschaft tragen und vor allem in ihre langfristige Zielfindung und planerische Vorsorge für die äußere und innere Sicherheit einbeziehen.
Informationen zur Professor Uwe Wiemken |
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Professor Uwe Wiemken ist seit 1974 am INTFraunhofer-Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen tätig, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, später als Abteilungsleiter und von 2001 bis 2012 als Institutsleiter. Auch nach seinem Ausscheiden als Institutsleiter berät er das INTFraunhofer-Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen. Seit 2009 ist Wiemken Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. |
Der Artikel gibt ausschließlich die Meinung des Autors wieder.
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