Rede der Bundesministerin der Verteidigung Annegret Kramp-Karrenbauer anlässlich der Eröffnung des Büros von IISSInternational Institute for Strategic Studies Europe am 7. September 2021 in Berlin.
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, heute bei der Eröffnung des IISSInternational Institute for Strategic Studies Europe Büros dabei zu sein und einige Gedanken zur Außen- und Sicherheitspolitik unseres Landes mit Ihnen zu diskutieren.
IISSInternational Institute for Strategic Studies ist einer der wichtigsten internationalen Think Tanks zu Sicherheits- und Verteidigungsfragen.
Dass die Wahl für den neuen Europastandort auf Berlin fiel, zeigt, welche zentrale Rolle unserem Land für die strategischen Fragen in Europa und der Welt zugemessen wird – zu Recht!
Es könnte aber auch zeigen, dass man anderswo noch nicht ganz zufrieden ist mit der Strategiefähigkeit Deutschlands – auch zu Recht!
Auch die Think Tank-Landschaft in Berlin ist zu den Fragen harter Sicherheitspolitik – zum scharfen Ende der Außenpolitik – noch nicht ausreichend aufgestellt.
Natürlich gibt es einige herausragende Stimmen, und einige von ihnen sind heute hier in diesem Raum.
Wenn IISSInternational Institute for Strategic Studies nun aber als neue Stimme hinzukommt, kann das der Debatte nur guttun.
Ich kann sie alle nur ermutigen: treiben Sie die Debatte! Ich will die Debatte verändern! Viele andere wollen es auch. Ich freue mich auf Ihren Beitrag dazu!
Mein besonderer Dank gilt heute vor allem den Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, die mit großem Engagement die Finanzierung von IISSInternational Institute for Strategic Studies in Berlin möglich gemacht haben.
Und sie gilt all jenen im Auswärtigen Amt und im Verteidigungsministerium die sich mit langem Atem dafür eingesetzt haben, dass dieses Institut hier in Berlin entstehen kann.
Meine Damen und Herren,
wir alle wissen, dass sich Deutschlands strategische Kultur verändern muss.
Wir alle wissen aber auch, wie schwer ein solcher Kulturwandel ist. Wie lang es dauert, eingeübte, lieb gewonnene und bequeme Denkmuster und Verhaltensweisen zu verändern.
Deutschland ist auf diesem Weg schon ein gutes Stück vorangekommen.
Denken Sie an die Diskussion zu Deutschlands Rolle im Indo-Pazifik.
Als ich dieses Thema 2018 zum ersten Mal angesprochen habe, gab es viel Unverständnis.
Heute haben wir vielbeachtete Indo-Pazifik-Leitlinien und unsere Fregatte Bayern ist auf dem Weg in die Region und zeigt dort Flagge, wo viel auf dem Spiel steht.
Und dennoch entsteht manchmal der Eindruck, dass sich die strategische Großwetterlage schneller verändert, als die Einstellung in Deutschland sich anpassen kann oder will.
Das führt mich zu den inhaltlichen Punkten, die ich heue machen möchte. Und ich möchte gleich beim Thema Kulturwandel bleiben.
Meine Damen und Herren,
eine der wichtigsten Kultur-Veränderungen, die wir in Europa und Deutschland in der Sicherheitspolitik brauchen, betrifft die Europäische Union.
Wenn wir im Kontext der EU über Sicherheit und Verteidigung sprechen, prägt ein großes Missverständnis die Debatte.
Wenn wir sagen, dass die EU in diesem Bereich mehr können muss, dann sprechen wir immer als erstes über neue Institutionen, neue Pläne, neue Projekte.
Dieses Denken geht davon aus, dass wir als erstes nur eine neue Institution bauen müssen – und dass der politische Wille dann schon von alleine kommt.
Doch wir wissen schon seit längerer Zeit, dass diese Methode zwar in vielen Politikfeldern gut funktioniert, nicht aber im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Nicht die Institution muss hier zuerst gebaut werden. Es ist der politische Wille, der zuerst her muss.
Afghanistan liefert dafür das aktuelle Beispiel.
Wir haben erkannt: in Afghanistan zu bleiben, wenn Amerika abzieht, das wäre uns gar nicht möglich gewesen.
Die Lehre daraus ist klar: ohne Amerika geht es nicht. Amerikafeindlichkeit können und wollen wir uns nicht leisten.
Vor allem aber lernen wir wieder einmal, was wir längst wissen: wir müssen als Europa, als EU, militärisch in Zukunft selbst mehr können.
Die EU muss ein Zukunftsversprechen abgeben: dass sie vom Nehmer zum Geber wird – vom Konsumenten kollektiver Verteidigung zum Produzenten europäischer Sicherheit.
Deswegen habe ich in der vergangenen Woche beim Verteidigungsministertreffen der EU einen Vorschlag gemacht: dass wir in der EU diejenigen Mitgliedsstaaten zusammenbringen, die bereit und in der Lage sind, stellvertretend für die gesamte EU voranzugehen.
Ein Vorschlag, in dem es zuerst um den politischen Willen geht, und erst danach um Institutionen und Verfahren.
Gemäß EU-Vertrag ist das schon seit geraumer Zeit möglich. Genutzt wurde es nie.
Es ist mit Afghanistan aber nun nochmals jedem klargeworden, dass uns der bisher gewählte Weg in diesem Politikbereich nicht entscheidend weiterbringt.
Wir müssen endlich die Mitgliedsstaaten in das Zentrum der Debatte stellen, nicht „Brüssel“. Bei Sicherheit und Verteidigung sind sie „die EU“. Es ist ihre Aufgabe, der EU Handlungsfähigkeit zu geben, nicht andersherum.
Und deswegen ist diese EU-Debatte eben auch eine deutsche Debatte. Und eine Debatte, die zuerst in jedem EU-Mitgliedsstaat geführt werden muss.
Das führt mich zurück zu unserer strategischen Kultur und auch zu der Tatsache, dass bei uns in zweieinhalb Wochen Bundestagswahlen stattfinden.
Die neue Regierung, ganz gleich, wer sie bilden wird, wird ab dem Herbst vor großen Aufgaben stehen. Denn viel kommt auf uns zu:
Die Bedrohungen aus den Außengrenzen Europas und der NATO wachsen.
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
In dem Epochenwechsel, der uns bevorsteht, wird Sicherheitspolitik viel stärker im Mittelpunkt stehen als früher.
Ich habe in den letzten Jahren darauf immer wieder hingewiesen. Aber wie gesagt: der Kulturwechsel ist schwer. Und er Koalitionspartner hat da auch nicht immer so mitgespielt, wie es gut gewesen wäre.
Aber die Schwerkraft kann man nicht austricksen. Die Realitäten fordern unsere Aufmerksamkeit. Auf essentielle Fragen müssen wir Antworten finden:
Welche sicherheits- und verteidigungspolitischen Ziele wollen wir in Zukunft verfolgen? Und mit welchen Instrumenten? Und natürlich: was darf uns das kosten?
Meine Damen und Herren,
Eine Antwort – meine Antwort – auf diese Fragen habe ich bereits gegeben. Sie finden Sie in den Eckpunkten zur Bundeswehr der Zukunft, die der Generalinspekteur der Bundeswehr und ich im Mai dieses Jahres veröffentlich haben.
Dreh- und Angelpunkt dieser Eckpunkte ist ein unverstellter Blick auf die Realitäten und auf die praktischen Ableitungen daraus.
Zum Beispiel dass die klassische Landes- und Bündnisverteidigung wieder zählt, und dass die Streitkräfte dafür aufwendig ausgestattet und umgebaut werden müssen. Damit haben wir begonnen.
Zum Beispiel dass wir trotz des Endes des Afghanistaneinsatzes auch weiter im Auslandseinsatz stehen werden. Wir werden eher mehr internationales Krisenmanagement bekommen als weniger.
Und natürlich dass das Konzept der Abschreckung zentral bleibt. Auch wenn er in unserer innenpolitischen Debatte manchmal fast verpönt ist.
Das gilt auch für die nukleare Abschreckung, die uns von politischer Erpressung freihält, und die wir auch als Land ohne eigene Atomwaffen durch unsere nukleare Teilhabe stärken müssen.
Es gibt in Deutschland einige politische Akteure, die diese Grundorientierungen nicht teilen. Bei denen Wunschdenken dominiert und die die Zeichen nicht lesen können.
Ich plädiere an sie und an alle Wahlkämpfer, die Verantwortung für dieses Land tragen wollen: zeigen Sie Realitätssinn!
Wir können uns Träumereien und ideologisch bedingte Fehlwahrnehmungen nicht erlauben.
Ich sage das ganz ausdrücklich mit Blick auf den Verteidigungshaushalt, der weiter steigen muss, wenn wir die Versäumnisse der Vergangenheit nachhaltig beheben wollen. Es geht dabei um unsere eigenen Fähigkeiten. Und es geht dabei um Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit im Bündnis.
Und ich sage das auch immer wieder zum Thema bewaffnete Drohne, die längst international Standard ist, und die wir zum Schutz unserer Truppen und für die eigene Operationsfähigkeit dringend brauchen.
Und ich fordere diesen Realismus auch als Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt, die Verantwortung für die Menschen in unseren Streitkräften trägt:
Unsere Soldatinnen und Soldaten sind die erste Verteidigungslinie unserer Demokratie.
Wir sind es ihnen ganz einfach schuldig, sie mit realistischem Auftrag und bestem Material in ihre Einsätze zu schicken.
Wir alle sind jetzt zurecht stolz auf eine militärische Evakuierungsoperation in Kabul und Taschkent, die eine Meisterleistung unserer Männer und Frauen in Uniform war.
Mit dem Geist, der Motivation und der Professionalität, die in dieser Operation stecken, ist die Bundeswehr ein Zukunftsträger für unser Land. Ein Faktor, der bei der Gestaltung des Epochenwechsels ein Pfund ist, mit dem unsere Gesellschaft wuchern kann.
Meine Damen und Herren,
ich wünsche mir von IISSInternational Institute for Strategic Studies Europe Debatte, Kritik und Vorschläge ganz im Sinne dieser Realitäten.
Mein Wunsch an das neue Team hier in Berlin ist: fordern Sie den Realitätssinn ein, fördern sie ihn – und halten Sie den Gegenwind aus, der Ihnen zweifelsohne schon bald ins Gesicht blasen wird.
Ich wünsche Ihnen für Ihre Arbeit viel Erfolg.
Vielen Dank.