Mit der Unterschrift der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen trat der aktuelle Traditionserlass im Frühjahr 2018 in Kraft. Das Dachdokument trägt den Titel „Die Tradition der Bundeswehr. Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege“. Es wird durch Einzeldokumente der Organisationsbereiche ergänzt, die spezifische Aspekte detaillierter regeln.
Der Traditionserlass von 2018 knüpft inhaltlich an den zuvor gültigen, noch aus dem Jahr 1982 stammenden Erlass an. Es handelt sich nicht um eine radikale Neufassung, sondern um eine Weiterentwicklung.
Das Verteidigungsministerium hatte im Mai 2017 einen offenen und umfassenden Überarbeitungsprozess initiiert. Dieser war für notwendig erachtet worden, weil die Bundeswehr mittlerweile eine andere Armee geworden war als die fast 500.000 Mann starke Bundeswehr des Kalten Kriegs mehr als 35 Jahre zuvor. Die Integration von ausgewähltem Personal und Material der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR, neue Herausforderungen wie die Auslandseinsätze sowie strukturelle Anpassungen nach der Aussetzung der Wehrpflicht – die sicherheitspolitischen Wandlungen seit dem Ende des Kalten Kriegs hatten der Truppe ein neues Gesicht gegeben.
Durch den Traditionserlass erhalten Führungskräfte sowie alle militärischen und zivilen Angehörigen der Bundeswehr mehr Handlungssicherheit im Umgang mit der Tradition der Bundeswehr. Im Erlass ist unter anderem festgelegt, dass Traditionspflege und historische Bildung Führungsaufgaben sind. Die mit der Führung der einzelnen Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche Betrauten haben also sicherzustellen, dass die Richtlinien des Traditionserlasses umgesetzt werden. Dieses Prinzip gilt bis zur Ebene der Dienststellen und Einheiten.
Der Erlass legt Wert darauf, der Truppe und den Dienststellen in ihren Besonderheiten und regionalen Bezügen Freiräume zu eröffnen. Demnach gibt er den militärischen und zivilen Vorgesetzten an die Hand, dass sie „bei der Traditionspflege truppengattungs- und verbandspezifische Alleinstellungsmerkmale im Grundbetrieb und Einsatz betonen sowie regionale Bezüge oder Besonderheiten hervorheben. Dazu verfügen sie über Ermessens- und Entscheidungsfreiheit, vor allem bei regionalen und lokalen Besonderheiten.“
Weiter ist es Ziel des Erlasses, dass Tradition für alle in der Bundeswehr wahrnehmbar wird: „Um ihre integrative und motivierende Wirkung entfalten zu können, muss die Tradition der Bundeswehr geistiges Gut aller Angehörigen der Bundeswehr sein. Sie ist im dienstlichen Alltag sichtbar und erlebbar zu machen.“
Ganz bewusst legt der Traditionserlass das Augenmerk auf eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit dem, was Tradition sein soll. Der Erlass erläutert, was im 21. Jahrhundert für Soldatinnen und Soldaten sowie alle Angehörigen der Bundeswehr traditionswürdig sein soll. Kern der Traditionspflege sind demnach Traditionen der Bundeswehr: „Zentraler Bezugspunkt der Tradition der Bundeswehr sind ihre eigene, lange Geschichte und die Leistungen ihrer Soldatinnen und Soldaten, zivilen Angehörigen sowie Reservistinnen und Reservisten.“
Erstmals nimmt der Erlass die gesamte deutsche Militärgeschichte in den Blick, schließt aber jene Teile aus, die mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bunderepublik nicht vereinbar sind. Gleichzeitig wird darauf verwiesen, dass die Werte des Grundgesetzes weit älter sind als das Grundgesetz selbst. Damit lässt sich Erinnerungs- und Bewahrungswürdiges aus allen Epochen in das Traditionsgut der Bundeswehr übernehmen. Ihr Traditionskanon bleibt so grundsätzlich offen: „Traditionsstiftung und Traditionspflege sind dynamisches und niemals abgeschlossenes Handeln, das sich allen Versuchen entzieht, es zentral oder dauerhaft festlegen zu wollen.“
Darüber hinaus zieht der Erlass klare Trennlinien zu nicht traditionswürdigen Kapiteln, Ereignissen und Personen der deutschen Geschichte. Vor allem die Wehrmacht als Institution kann daher als Waffenträger des NSNationalsozialismus-Regimes nicht traditionsstiftend für die Bundeswehr sein: „Der verbrecherische NSNationalsozialismus-Staat kann Tradition nicht begründen. Für die Streitkräfte eines demokratischen Rechtsstaates ist die Wehrmacht als Institution nicht traditionswürdig.“
Ausnahmen sind allerdings die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, die Angehörigen der Gründer- und Aufbaugeneration der Bundesrepublik Deutschland oder Personen, die sich um Recht und Freiheit verdient gemacht haben – sie haben Relevanz für die Traditionspflege der Bundeswehr: „Die Aufnahme einzelner Angehöriger der Wehrmacht in das Traditionsgut der Bundeswehr ist dagegen grundsätzlich möglich. Voraussetzung dafür ist immer eine eingehende Einzelfallbetrachtung sowie ein sorgfältiges Abwägen. Dieses Abwägen muss die Frage persönlicher Schuld berücksichtigen und eine Leistung zur Bedingung machen, die vorbildlich oder sinnstiftend in die Gegenwart wirkt, etwa die Beteiligung am militärischen Widerstand gegen das NSNationalsozialismus-Regime oder besondere Verdienste um den Aufbau der Bundeswehr.“
Weiter zieht der Traditionserlass klare Grenzen zur Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR. Allerdings werden Wehrmacht und NVA als Armeen von Diktaturen in ihrer historischen Bewertung nicht gleichgestellt. Zur NVA heißt es im Erlass: „Die NVA begründet als Institution und mit ihren Verbänden und Dienststellen keine Tradition der Bundeswehr. In ihrem eigenen Selbstverständnis war sie Hauptwaffenträger einer sozialistischen Diktatur.“
Der Zweck des Traditionserlasses ist ebenfalls klar definiert: „Die Traditionspflege in der Bundeswehr stärkt das Bewusstsein für ihre eigene Geschichte und den Stolz auf ihre Leistungen.“ Dabei ist das Selbstverständnis der Bundeswehr streng an die Werte und Normen des Grundgesetzes gebunden: „Grundlage sowie Maßstab für das Traditionsverständnis der Bundeswehr und für ihre Traditionspflege sind neben den der Bundeswehr übertragenen Aufgaben und Pflichten vor allem die Werte und Normen des Grundgesetzes. Zu ihnen zählen insbesondere die Achtung der Menschenwürde, die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht, der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft sowie die Verpflichtung auf Freiheit und Frieden.“
Die Traditionspflege der Bundeswehr ist damit dem Ziel verpflichtet, das demokratische Wertebewusstsein und die Verfassungstreue zu festigen und zu erhalten. Es geht um einen verfassungsorientierten Patriotismus, das Bejahen des Auftrags zum Erhalt oder zur Wiederherstellung des Friedens in Freiheit. Weiterhin dient Traditionspflege als Grundlage des soldatischen Selbstverständnisses der Bundeswehr sowie der Vermittlung soldatischer Tugenden und soldatischer Haltung. Und schließlich fördert sie Einsatzbereitschaft und den Willen zum Kampf, wenn es der Auftrag erfordert.
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