Rede des Bundesministers der Verteidigung, Boris Pistorius, anlässlich des Feierlichen Gelöbnisses zum 20. Juli im Bendlerblock Berlin, 20. Juli 2023.
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Frau Dr. Schulthess-Rechberg, Ihnen und Ihrer Familie stellvertretend für alle Angehörigen der ehemaligen Widerstandskämpferinnen und -kämpfer des 20. Juli 1944 ein herzliches Willkommen.
Exzellenzen,
sehr geehrte Repräsentantinnen und Repräsentanten aus Bund und Ländern,
sehr geehrte Damen und Herren
und ganz besonders: Liebe Rekrutinnen und Rekruten:
Sie leisten heute Ihren Eid. Sie geloben, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.
Dieses Versprechen geben Sie an einem besonderen Ort und zu einem besonderen Datum ab.
Am 20. Juli 1944 versuchten mutige deutsche Offiziere um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Deutschland von der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus zu befreien. Ihr Ziel: Ein Ende des Krieges und der Verfolgung.
Sie leisteten Widerstand gegen eine menschenverachtende Diktatur, gegen Mord und Verbrechen. Und: Sie folgten dabei ihrem Gewissen, obwohl sie wussten, dass ihre Chancen auf Erfolg gering waren.
Tatsächlich: Das Attentat auf Adolf Hitler und die Operation Walküre scheiterten. Noch in der Nacht zum 21. Juli 1944 wurden Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Werner von Haeften, Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim, Friedrich Olbricht und Ludwig Beck hier im Bendlerblock erschossen.
Viele ihrer rund 200 zivilen und militärischen Mitstreiter und Gleichgesinnten wurden später hingerichtet oder in den Konzentrationslagern zu Tode gequält.
Ihr Weg in den Widerstand war keineswegs frei von Zögern und Widersprüchen. Viele von Ihnen hatten das Hitler-Regime lange unterstützt, waren teilweise selbst an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt. Aber am Ende fanden sie die Kraft und den Mut, die Unrechtmäßigkeit des eigenen Handelns zu erkennen und den Aufstand zu wagen.
Graf von Stauffenberg selbst formulierte es kurz vor dem 20. Juli 1944 so: „Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, so wird er zum Verräter vor seinem eigenen Gewissen“.
Graf von Stauffenberg und viele weitere Mitglieder der Widerstandsgruppe bezahlten den Aufstand ihres Gewissens mit dem Leben. Aber ihre Geschichte und ihr Anspruch bleiben lebendig und prägen bis heute das Selbstverständnis der Bundeswehr.
Ich stehe hier mit größter Achtung vor ihrer Entschlossenheit und vor der Kraft ihres Gewissens. Und ich empfinde große Bewunderung und Demut vor dem Anstand und dem Mut all jener Frauen und Männer, die sich auf unterschiedliche Weise gegen das Grauen des Nationalsozialismus erhoben haben:
Sie alle sind Vorbilder. Für uns alle. Bis heute.
Meine Damen und Herren,
es ist mir eine Ehre, unseren heutigen Ehrengast, die Tochter von Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seiner Frau, Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg, unter uns begrüßen zu dürfen.
Frau Dr. Konstanze von Schulthess-Rechberg hat ihren Vater nicht mehr kennenlernen dürfen – dies haben ihr die Nationalsozialisten brutal genommen. Aber sie ist aufgewachsen in einer Familie, deren Leben nach dem 20. Juli 1944 geprägt war von den Folgen seines tapferen Handelns.
Sie, liebe Frau Dr. von Schulthess-Rechberg, sind Zeitzeugin der deutschen Nachkriegsgeschichte und damit des Werdegangs eines Landes, das eine furchtbare, eine unvergleichliche Schuld annehmen und aufarbeiten musste.
Eines Landes, das seinen Weg zurück in die internationale Staatengemeinschaft fand: Dank der von unseren europäischen und amerikanischen Partnern angebotenen Versöhnung, die nach den unbeschreiblichen Verbrechen des Nationalsozialismus alles andere als selbstverständlich war.
Sie sind Zeitzeugin eines Deutschlands, das in dieser Staatengemeinschaft schließlich selbst Verantwortung übernommen hat:
Für unsere Sicherheit und Freiheit und die unserer Freunde und Verbündeten. Und für eine regelbasierte internationale Ordnung, die die Schwachen und Wehrlosen vor der Tyrannei der Aggression der Mächtigen schützen soll und schützt.
Sehr geehrte Frau Dr. Schulthess-Rechberg, aus Ihrer eigenen Geschichte haben Sie einen ganz persönlichen Blick auf dieses Deutschland und auf seinen Umgang mit dem Erbe Ihres Vaters und seiner Mitstreiter:
Ich freue mich deshalb sehr, dass Sie heute zu unseren Rekrutinnen und Rekruten sprechen werden.
Soldatinnen und Soldaten,
Sie haben eine große Entscheidung getroffen. Sie wissen: Soldatin oder Soldat zu sein kann in letzter Konsequenz den Einsatz von Leib und Leben bedeuten. Das Höchste, was ein Mensch geben kann.
Für diese Entscheidung zolle ich Ihnen großen Respekt. Und ich bin Ihnen zutiefst dankbar – als Bürger dieses Landes ebenso wie als Ihr Verteidigungsminister.
Mit Ihrer Entscheidung für die Bundeswehr, für diesen besonderen Dienst, übernehmen Sie Verantwortung für unser Land, für die Menschen in diesem Land, für unsere Freiheit, für unsere Demokratie und für unseren Rechtsstaat.
Sie tun dies in einer Zeit, in der unsere Ordnung und unsere Werte, unser Frieden und unsere Freiheit weltweit unter Druck stehen und in unserer direkten Nachbarschaft brutal attackiert werden. Der 24. Februar des vergangenen Jahres hat uns das schmerzlich vor Augen geführt.
Putin hat mit dem Überfall auf die Ukraine den Krieg zurück nach Europa gebracht. Und er greift unsere Friedensordnung auf eine Weise, die wir uns auf diesem Kontinent nicht mehr hatten vorstellen können. Er greift unsere Art zu leben an.
In dieser Zeitenwende wird die Bedeutung der Bundeswehr für unser Land besonders sichtbar. Wieder sichtbar.
Und es wird deutlich: Wir müssen unsere Bundeswehr wieder auf Landes- und Bündnisverteidigung ausrichten und ihre Einsatz- und Abschreckungsfähigkeit spürbar erhöhen – damit wir auch morgen noch in Frieden und Freiheit leben können.
Dafür brauchen wir Sie: Soldatinnen und Soldaten. Männer und Frauen, die bereit sind, sich in den Dienst unseres Landes zu stellen und unsere Sicherheit und Freiheit zu verteidigen:
Mit Engagement, Mut und Solidarität und mit einem klaren Wertefundament und moralischen Kompass stehen Sie für unsere wehrhafte Demokratie, für ein freies und wehrhaftes Deutschland.
Soldatinnen und Soldaten,
Sie treten ein in ein System von Befehl und Gehorsam. Aber Sie wissen auch: Gehorsam findet seine Grenze im Gewissen.
Das Gedenken an den 20. Juli 1944 mahnt uns bis heute, dass das Gewissen immer die letzte Entscheidungsinstanz ist – und das eigene Denken damit stets wichtige Pflicht.
Die Widerstandskämpfer des 20. Juli sahen ihre soldatische Pflicht darin, das Recht über den unrechtmäßigen Befehl zu stellen. Dieser Anspruch findet bei uns Ausdruck in der Inneren Führung mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform – und er steht auch heute über Ihrem Gelöbnis.
Als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger leben und erleben Sie täglich die Werte unseres Grundgesetzes und unserer wehrhaften Demokratie. Diese sind seit nunmehr fast 75 Jahren die Grundlage unseres Zusammenlebens - mit gleichen Rechten für alle, Freiheit, Demokratie und Recht.
Und als Staatsbürgerin oder Staatsbürger in Uniform geloben Sie heute, sich in besonderer Weise in den Dienst dieses Grundgesetzes, dieser Demokratie zu stellen. Sie stehen damit an zentraler Stelle für die Stabilität und Wehrhaftigkeit unserer Demokratie und unseres Rechtsstaats.
Ich bin – als Bürger dieses Landes – stolz und dankbar für Ihren Dienst an unserem Land.
Es kommt nun auf Sie an, Soldatinnen und Soldaten. Mit Ihrer Einstellung, mit Ihrer Haltung und mit Ihrem Respekt gegenüber anderen und gegenüber Ihrer Aufgabe werden Sie nicht nur Ihren wichtigen Auftrag erfüllen, nein, Sie werden auch die Bundeswehr prägen.
Die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 und alle, die sich gegen die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus erhoben haben, sind uns dabei Vorbild.
Sie mahnen uns, Verantwortung zu übernehmen, dem eigenen Gewissen zu folgen und für unsere gemeinsamen Werte zusammenzustehen: Jeden Tag. Tun auch Sie das: pflichtbewusst und verantwortungsvoll – mit Herz, Verstand, Gewissen und Mut.
Ich wünsche Ihnen für Ihren Dienst an unserem Land und für Ihre Laufbahnen in der Bundeswehr von ganzem Herzen allzeit Soldatenglück!
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