Verteidigungsministerin Christine Lambrecht äußerte sich in einem Interview mit der ,,Welt am Sonntag'' zur Ukraine-Krise, zur nuklearen Teilhabe, zum Mali-Einsatz und zu ihren Plänen für die Bundeswehr.
Der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Generalsekretär spricht angesichts des russischen Truppenaufmarsches an der Grenze zur Ukraine von einer Kriegsgefahr in Europa. Wie schätzen Ihre Militärs die Lage ein, Frau Lambrecht?
Wenn über 100.000 russische Soldaten direkt an der ukrainischen Grenze zusammengezogen sind, ist das eine extrem bedrohliche Situation. Wir sind alarmiert, sehen die Gefahr – und tun alles, sie abzuwenden.
Am Mittwoch hat der Kanzler davon gesprochen, dass im Fall eines russischen Angriffes „alles“ an Sanktionen zu diskutieren sei. Interpretieren Sie das auch als eine Wende in der Haltung zur Nord-Stream-2-Pipeline?
Wenn der Bundeskanzler sagt, dass politisch, diplomatisch und wirtschaftlich alles auf dem Prüfstand steht, dann kann es da keine Tabus geben.
Ist das in der SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands Konsens?
Ja. Die Vorstellung, dass mitten in Europa ein Krieg ausbrechen könnte, der von Russland initiiert ist, und gleichzeitig wirtschaftliche Kooperationen geknüpft werden, ist vollkommen abwegig.
In der FDP gibt es Stimmen, die entgegen der Verabredung in der Regierung Waffenlieferungen in Betracht ziehen. Wie ernst nehmen Sie das?
Ich kann verstehen, dass man die Ukraine unterstützen will. Aber genau das machen wir schon. So wird im Februar ein komplettes Feldlazarett übergeben, inklusive der nötigen Ausbildung, alles von Deutschland mit 5,3 Millionen Euro kofinanziert. Wir haben auch bereits Beatmungsgeräte geliefert. Und wir behandeln schwer verletzte Soldaten der Ukraine in unseren Bundeswehr-Krankenhäusern. Wir stehen also an der Seite Kiews. Wir müssen jetzt alles tun, um zu deeskalieren. Waffenlieferungen wären da aktuell nicht hilfreich – das ist Konsens in der Bundesregierung.
Verschiedene SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands-Politiker haben in den vergangenen Tagen Willy Brandts Ostpolitik beschworen. Wie müsste die aus Ihrer Sicht heute aussehen?
Wir betreiben bereits eine Ostpolitik ganz im Sinne Willy Brandts. Wir setzen einerseits auf Abschreckung, haben aber andererseits endlich wieder Gesprächskanäle geöffnet, die jahrelang geschlossen waren. Unsere Position ist, nun alle Verhandlungsebenen wieder zu nutzen – von der OSZEOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bis zum Normandie-Format. Es war auch ein wichtiges Signal, dass der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Russland-Rat nach mehr als zweieinhalb Jahren wieder getagt hat. Wer aber geglaubt hat, dass es bei diesen ersten Gesprächen sofort zum Durchbruch käme, war naiv. Jetzt ist es wichtig, die Gespräche fortzuführen.
Brandts Ostpolitik ging davon aus, dass auch russische Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen seien. Auf heute bezogen: Welche Sicherheitsinteressen würden Sie den Russen zugestehen?
Dazu gehört jedenfalls nicht, über andere Staaten entscheiden zu wollen. Und es gehört auch nicht dazu, die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Mitgliedschaft osteuropäischer Staaten in Frage zu stellen. Es gibt kein russisches Vetorecht für Beitritte zur NATONorth Atlantic Treaty Organization. Jedem souveränen Staat, der unsere Werte teilt, steht es frei, sich um die Mitgliedschaft zu bewerben. Jenseits dieser roten Linien aber gibt es von westlicher Seite eine große Bereitschaft, mit Russland zu sprechen und seine Interessen mitzudenken.
Was halten Sie von einer bündnispolitischen Neutralität Kiews?
Wir haben nicht das Recht, darüber zu entscheiden, über welchen außen- und bündnispolitischen Status die Ukraine verfügen soll. Das ist einzig Sache der Ukraine.
Putin versucht auch an anderer Stelle, in der Welt seine Einflusssphären auszubauen, zum Beispiel in Mali. Wie gehen Sie mit dem Einsatz von russischen Söldnern dort um?
Ich begrüße, dass das Konsequenzen haben wird. Moskau wird es nicht gelingen, über die Entsendung von Söldnern den Westen quasi automatisch überall dort zum Rückzug zu bewegen, wo Russland uns nicht sehen will. Wir werden nicht weichen. So einfach machen wir es den Russen nicht.
Haben Sie den Eindruck, dass die malische Militärjunta noch an deutscher Hilfe interessiert ist?
Wenn man die Bundeswehr im Land will, dann muss man auch dafür sorgen, dass die Bedingungen stimmen. Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen sich ungehindert bewegen können und bestmöglich geschützt werden. Dazu gehört übrigens auch der Schutz durch Drohnen. Ich werde gegenüber der malischen Regierung sehr deutlich machen, dass es auch nicht sein kann, dass Wahlen für fünf Jahre ausgesetzt werden oder sie mit Söldnern zusammenarbeitet, die sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben.
Wann können Sie den Soldaten in Mali bewaffnete Drohnen zur Verfügung stehen?
Die Systeme werden im Lauf der Legislaturperiode zur Verfügung stehen. Damit ist es aber nicht getan. Ich lasse hier im Haus derzeit auch die völkerrechtlichen und ethischen Richtlinien eines Einsatzes von bewaffneten Drohnen erarbeiten. Und am Ende muss immer das Parlament darüber entscheiden, ob diese Waffe für einen Einsatz mandatiert wird.
Moskau hat eine ganze Reihe neuester atomwaffenfähiger Raketen in seinem europäischen Teil stationiert. Funktioniert die westliche und damit die deutsche Abschreckungspolitik noch?
Unser Ziel bleibt eine atomwaffenfreie Welt. Dazu gehört, dass wir uns einerseits für nukleare Abrüstung einsetzen, andererseits aber so lange an der atomaren Abschreckung festhalten und uns daran beteiligen, wie Atomwaffen eine Bedrohung des Weltfriedens sind. Deswegen haben wir uns im Koalitionsvertrag klar zur nuklearen Teilhabe positioniert.
Ist das Abschreckungsmodell, im Ernstfall Atombomben mit Flugzeugen ins Ziel tragen zu wollen, noch zeitgemäß?
Uns ist wichtig, dass wir bei entscheidenden Fragen der nuklearen Abschreckung ein bedeutendes Wort in der NATONorth Atlantic Treaty Organization mitsprechen. Deswegen sind wir für die nukleare Teilhabe, solange das Teil der Strategie ist. Das ist das Eine. Zum anderen wird die Bundesregierung als Beobachter an der ersten Vertragsstaatenkonferenz des Atomwaffenverbotsvertrages teilnehmen. Wie gesagt: Unser Ziel bleibt eine atomwaffenfreie Welt. Beides ergänzt sich.
Um die Abschreckung der NATONorth Atlantic Treaty Organization aufrechtzuerhalten, müssen die betagten Bundeswehr-Tornados ersetzt werden. Sie haben nun zu entschieden, ob das allein mit europäischen Jets geschehen soll – oder mit einem Mix aus Eurofightern mit amerikanischen F-18 oder F-35. Zu welcher Lösung tendieren Sie?
Ich möchte jetzt alle Optionen auf dem Tisch haben. Das Ganze muss sehr zeitnah entschieden werden, weil die Tornados spätestens 2030 ersetzt werden müssen. Es gibt den Wunsch, eine europäische Lösung hinzubekommen. Diese müsste aber in den Zeitkorridor passen. Das macht es schwierig. Es wird in jedem Fall zu einer fachlich richtigen Entscheidung mit einer hochmodernen Lösung kommen.
Gehört also auch der Kauf moderner F-35 zu diesen Optionen?
Ich sagte, alle Optionen liegen auf dem Tisch.
Welches Modell es am Ende auch geben mag: Es wird teuer. Sie haben im Bundestag einen höheren Wehretat gefordert. Auf welche Summen bauen Sie für 2022 und in der mittelfristigen Finanzplanung?
Ich baue nicht auf eine Summe. Mir kommt es darauf an, dass ich die der Bundeswehr übertragenen Aufgaben bestmöglich erfüllen kann. Es kann nicht sein, dass ich auf der einen Seite als Teil der NATONorth Atlantic Treaty Organization die Verantwortung habe, die Einsatzbereitschaft und damit die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land zu gewährleisten, dafür aber nicht die entsprechenden Mittel bekomme. Die Herausforderungen sind gewaltig, sie reichen von der Tornado-Nachfolge bis zu einem neuen schweren Transporthubschrauber und vielem mehr. Ich habe die Ansage des Bundeskanzlers, dass die dafür nötigen Mittel im Rahmen des Möglichen zur Verfügung stehen werden, mit großer Freude gehört.
Im Rahmen des Möglichen… Finanzminister Christian Lindner will 2023 zur Schuldenbremse zurückkehren und sagt: Fachminister, die Neues finanzieren wollen, müssten darüber nachdenken, „was nicht mehr erforderlich ist“.
Die Gewährleistung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr subsumiere ich nicht darunter. Das ist nichts Neues, sondern eine Daueraufgabe. Selbstverständlich haben auch wir hier im Haus den Job, effizienter zu werden und Ausgaben zu priorisieren. Das bedeutet aber nicht, dass ich Abstriche bei den Fähigkeiten der Streitkräfte machen werde. Die Gewährleistung von Sicherheit ist eine Kernaufgabe des Staates.
Der öffentliche Bericht zur Materiallage weist eine Einsatzbereitschaft von guten 77 Prozent bei den Hauptwaffensystemen aus. Hat man Ihnen schon erläutert, wie es in der geheim gehaltenen Realität aussieht? Anders gefragt: Reden die Generäle Ihnen gegenüber Klartext?
Ja, und darauf habe ich auch von Anfang an großen Wert gelegt. Ich brauche keine Generäle, die mir geschönte Berichte vortragen. Ich will, dass Klartext gesprochen wird, damit ich auf zutreffender Grundlage entscheiden kann. Meine Wahrnehmung ist, dass ich offen beraten werde.
Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, kritisiert das „Geschwurbel“ der Generalität im Ministerium. Dürfen die Militärs unter der Ministerin Lambrecht die Abgeordneten frei beraten – oder erwarten Sie zuerst Loyalität?
Ich erwarte sehr wohl Loyalität. Das ist für mich aber kein Widerspruch zu einer offenen Aussprache. Dass die Parlamentarier alle Informationen bekommen, die sie brauchen, um ihre Entscheidungen zu treffen, das ist unter der Ministerin Christine Lambrecht gewährleistet.
Werden Sie an Ihrem Generalinspekteur, General Eberhard Zorn, festhalten?
Ich habe mit Herrn Zorn bislang eine sehr gute Zusammenarbeit erlebt. Er berät mich so, wie ich mir das vorstelle. Von daher sehe ich keinen Grund, warum ich das ändern sollte.
General Zorn will die dysfunktionale Führungsstruktur der Bundeswehr reformieren. Darf er das?
Ich werde mir die Eckpunkte, die der Generalinspekteur mit meiner Vorgängerin erarbeitet hat, sehr genau anschauen. Aber dafür nehme ich mir Zeit.
Was planen Sie?
Ich will keine große Strukturreform über das Knie brechen. Wir machen jetzt erst einmal ein paar Dinge, die schnell gehen können und schnell wirken. Ich kann mir mehr Verantwortung der Truppe in der Fläche durch höhere Budgets vorstellen, um einfache Beschaffungen selbst zu erledigen. Davon erhoffe ich mir die Entlastung des Personals, das sich um die großen Projekte kümmert. Ich will mir das Vergaberecht anschauen, auch die ungenutzten Spielräume in den europäischen Vergaberichtlinien. Und ehe Sie fragen: Ich weiß, seit 22 Jahren hört man von jedem Verteidigungsminister, dass sich etwas ändern muss. Dennoch bin ich überzeugt, dass wir mit Pragmatismus viel erreichen können, im Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten und für die Sicherheit unseres Landes.
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