Die Redaktion der Bundeswehr hat die freie Journalistin Cécile Calla vor dem Hintergrund des Weißbuch-Prozesses zur aktuellen Lage in Frankreich nach den Anschlägen von Paris und den damit verbundenen Außen- und Sicherheitspolitischen Herausforderungen gesprochen.
Frau Calla, wie haben Sie als in Berlin lebende Pariserin die Anschläge in ihrer Heimatstadt erlebt?
Ich war zuhause, als ich die Nachricht auf meinem Smartphone las. Am Anfang war das ganze Ausmaß des Grauens noch gar nicht erkennbar, aber ich habe sofort verstanden, dass etwas ganz Schlimmes passiert ist. Wir dachten eigentlich, mit dem Anschlag auf Charlie Hebdo sei den Parisern schon das Schlimmste passiert. Damals waren wir alle sehr schockiert, weil eine Redaktion fast komplett hingerichtet wurde. Das war ein Novum. Aber was wir am 13. November erlebt haben, hat jeglichen Rahmen gesprengt, den wir uns vorstellen konnten. Natürlich wussten wir um die Gefahr. Und gerade in Paris waren die Sicherheitsvorkehrungen sehr hoch. Aber im Unterschied zu den Anschlägen im Januar hätte es diesmal jeden treffen können. Und am meisten schockiert uns, dass unter den Attentätern junge Franzosen waren. Franzosen haben auf Franzosen geschossen.
Was hat Europa falsch gemacht?
Nach diesen Anschlägen wird ein weiteres Mal deutlich: es gibt einen inneren und einen äußeren Feind, dem wir uns da stellen müssen. Wir haben in Frankreich und auch in Belgien große Probleme mit der Integration, die nicht mit den Problemen in Deutschland oder anderen EU-Ländern vergleichbar sind. Die in Frankreich seit Jahren anhaltende Wirtschaftskrise führt vor allem zu einer hohen Jugendarbeitslosigkeit. Und seit Jahrzehnten haben wir massive Probleme in manchen unserer Vororte. In den 60ern und 70ern wurde die Bevölkerung, die aus den ehemaligen Kolonien stammt, in Viertel, weit von den Innenstädten, einquartiert, die eher Ghettos ähneln; und die kaum über entwickelte Infrastrukturen verfügen. Dort ist ein Gefühl gewachsen, nicht Teil der Gesellschaft zu sein, sich nicht mit Frankreich identifizieren zu können, weil die Diskrepanz zwischen den stets zelebrierten französischen Idealen wie Brüderlichkeit und sozialer Gerechtigkeit und dem Alltag in diesen Vororten einfach zu groß ist. Aber es radikalisieren sich nicht nur die Jugendlichen aus den Banlieues, sondern auch zunehmend Jugendliche aus Familien der Mittelschicht.
Innerhalb von nur 10 Monaten ist Frankreich zum zweiten Mal Opfer von Terror geworden. François Hollande spricht von Krieg. Sind die Franzosen nach diesen Anschlägen bereit, im Kampf gegen den ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien einen Blutzoll zu entrichten?
Die Bevölkerung ist sogar bereit, weiter als Präsident Hollande zu gehen. Eine Mehrheit ist für eine Entsendung von Bodentruppen nach Syrien. Das ergab eine Umfrage kurz nach den Anschlägen. Aber Bodentruppen sind für die französische Regierung und das Militär keine Option. Im Élysée-Palast ist man sich sehr wohl bewusst, wenn wir Bodentruppen schicken, dann ist das wie ein Kreuzzug der Christen gegen den Islam. Dazu kommt, dass das ein Land allein sowieso nicht leisten kann. Also ist die Regierung seit den Attentaten innenpolitisch gehörig unter Druck: Paris hat das schlimmste Blutbad seit dem 2. Weltkrieg erlebt. François Hollande hat versucht, die Wut und die Entschlossenheit der Bevölkerung aufzufangen und der Opposition – allen voran dem Front National von Marine le Pen – den Wind aus den Segeln zu nehmen. Deshalb hat Hollande auch sehr schnell diese Kriegsrhetorik eingeschlagen. Das passte mit den Gefühlen der meisten Franzosen zusammen. Was sie selbst erlebt oder im Fernsehen gesehen haben, erinnerte viele an Kriegsszenen. Und so melden sich bei der französischen Armee zurzeit dreimal mehr junge Menschen als üblich und wollen freiwillig in die Armee eintreten, um den ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien zu bekämpfen.
Auf Initiative Frankreichs hatte der UNUnited Nations-Sicherheitsrat einstimmig eine Resolution verabschiedet, die zum Kampf gegen den ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien aufruft. Allerdings ohne ein militärisches Mandat. Was erhofft sich die Regierung in Paris damit von der Völkergemeinschaft?
Die Franzosen wollten kein reines NATO-Mandat. Sie wollen so viele Verbündete im Kampf gegen den ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien wie möglich. Und dafür ist Frankreich inzwischen auch bereit, schwierige Kompromisse, die einer diplomatischen Akrobatik ähneln, einzugehen. Bis vor ein paar Wochen war Putin wegen der Ukraine-Krise in der französischen Hauptstadt nicht so willkommen. Und Überlegungen, dass man mit Teilen von Assads Truppen gegen den ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien kämpfen will, waren undenkbar. Aber in diesem Kampf schauen wir im Moment nicht so sehr, ob alle Verbündeten unsere Werte teilen. Die Bevölkerung würde es nicht verstehen, wenn es keine militärische Antwort auf den Terror geben würde. Nicht zu reagieren wäre ein Zeichen der Schwäche, innenpolitisch, wie außenpolitisch.
Von Washington bis Moskau – Präsident Hollande sucht das ganz große Bündnis und führt in diesen Tagen viele Gespräche mit Washington, London, Moskau, Rom und Berlin. Ein diplomatischer Dauerlauf – Ende offen?
Direkt nach den Anschlägen hat Präsident Hollande von einer Koalition gegen den ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien gesprochen. Jetzt spricht man von einer Koordinierung. Was etwas anderes ist. Es ist schwierig für ihn, eine breite Front gegen den ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien zu bilden. Putin will er ins Boot holen, auch wenn weiter nicht klar ist, wen er in Syrien wirklich bekämpfen will. Amerika ist weiter sehr zurückhaltend. Und in Europa – bis auf Cameron – sind nicht sehr viele Staatschefs Hollande zur Seite gesprungen, um mit Frankreich den Schulterschluss üben.
Die Bundeswehr will 1200 Soldaten nach Syrien schicken: Tornados zur Aufklärung von Angriffszielen und eine Fregatte zum Schutz des französischen Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ im Mittelmeer. Dazu kommen mehr Soldaten für Ausbildungsmissionen in Mali und im Irak. Tut Deutschland aus der Sicht Frankreichs damit genug?
Aus der Sicht der Regierung in Paris ist das eher eine symbolische Maßnahme. Deutschland hat keine andere Wahl. Deutschland und Frankreich sind die wichtigsten Partner für einander in Europa. Es wäre gar nicht möglich gewesen, dass Deutschland sich nicht engagiert und sich solidarisch mit Frankreich zeigt. Die Franzosen haben zwar keine öffentlichen Forderungen an die Deutschen gestellt, sie haben aber gehofft, Deutschland würde mehr beitragen im Anti-Terror-Kampf. Die Ankündigung, zusätzliche Soldaten nach Mali zu schicken, gab es ja schon vor den Anschlägen. Präsident Hollande sieht, dass Merkel etwas tun will, aber er muss erkennen, dass sie innenpolitisch kaum mehr durchsetzen kann als das, was jetzt als Angebot auf dem Tisch liegt.
Seit Ende September fliegt die französische Luftwaffe Angriffe auf Einrichtungen des ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien in Syrien. Wie erfolgversprechend ist die Ausweitung der Luftangriffe?
Die Frage ist doch, was die Länder in unmittelbarer Nachbarschaft zu Syrien beitragen wollen: die Türkei, Saudi Arabien und Iran? Bei der Frage nach Bodentruppen wären doch zunächst diese Länder gefragt. Aber es geht ja nicht nur um militärische Lösungen. Es geht auch darum, wie man die Geldströme des ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien austrocknen kann. Wie man den ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien daran hindert, freien Zugang zu Rohöl zu bekommen, um sich aus dem Verkauf weiter zu finanzieren. Denn der ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien ist eine sehr reiche Organisation. Hier anzusetzen heißt nicht nur, Luftschläge gegen den ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien zu führen. Darüber hinaus muss man auch die Propaganda des ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien stoppen und darf verlorene Jugendliche, die mit uns in Europa leben, nicht aus den Augen verlieren. Ihnen müssen wir klar machen, dass diese Ideologie purer Nihilismus ist. Das ist langwierig und braucht auch Prävention in Schulen und kulturellen Einrichtungen. Damit wir vorher erkennen, wenn Jugendliche unseren gesellschaftlichen Werten den Rücken kehren.
Russland strebt eine „breite Anti-Terror-Front“ an, steht aber weiter an der Seite des syrischen Machthabers Assad. Ist Russland der richtige Partner beim Kampf gegen den ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien?
In der französischen Bevölkerung macht man sich derzeit nicht diese Gedanken. Sie wollen einfach viele Verbündete im Kampf gegen ISIslamischer Staat im Irak und in Syrien. Je mehr, desto besser. Die Regierung in Paris weiß sehr wohl, dass das in Richtung Russland derzeit einen gewissen politischen Spagat erfordert. Aber allen ist klar, es führt im Moment kein Weg an Russland vorbei.
Nach den blutigen Anschlägen von Paris hat die französische Regierung die Europäische Union nach Artikel 42 des EU-Vertrages um Beistand gebeten. Warum hat man nicht, wie nach 9/11, den NATO-Bündnisfall ausgerufen?
Hätte Frankreich den NATO-Bündnisfall ausgerufen, hätte man Russland nicht mit im Boot gehabt. Außerdem war für die Franzosen klar, die Attentate in Paris waren nicht nur Anschläge auf Frankreich, sondern auf Europa insgesamt. Auf eine bestimmte Lebensart, auf bestimmte Werte. Auf eine bestimmte Form von Freiheit. Also auf die europäischen Werte. Und weil wir seit Jahren von einer gemeinsamen Außen – und Sicherheitspolitik sprechen, sah man in Paris einen weiteren Anstoß auf dem Weg dahin.
Wie realistisch ist vor diesem Hintergrund eine europäische Armee?
Der 13. November 2015 könnte ein Ausgangspunkt sein für eine europäische Armee. Könnte! Aber ich bin da eher skeptisch, dass das je gelingen kann. Derzeit sehen wir ja in der Flüchtlingsfrage, dass Europa in dieser Krise nicht gemeinsam handeln kann. Und nach diesen Anschlägen auf Paris sehe ich auch keine konkreten Anstrengungen der europäischen Staaten für einen gemeinsamen Schulterschluss.
Müssen wir uns zukünftig damit abfinden, dass die Kriege und Krisen dieser Welt durch solchen Terror nach Europa verlagert werden?
Paris war ja nicht die erste Stadt in Europa, die Gewalt durch Terror erleben musste. Denken Sie an Städte wie Madrid oder London. Denen ist ähnliches passiert. Frankreich ist bereits seit über einem Jahr im Anti-Terror-Kampf aktiv und ist damit ein natürliches Ziel für Terroristen. Aber im Bekennerschreiben der Attentäter wurde ja deutlich gemacht, dass Paris als „Stadt der Perversion“ bestraft werden sollte. Und da es um die Lebensart geht, können auch andere europäische Städte in den Fokus des Terrors geraten. Bedenken Sie, auch der deutsche Außenminister saß neben Präsident Hollande im Stadion beim Spiel der Deutschen Nationalmannschaft. Also man sieht doch, der Terror richtet sich ganz bewusst gegen unsere gemeinsamen europäischen Werte.
Frau Calla, wir danken Ihnen für dieses Interview!
Informationen zu Cécile Calla |
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Cécile Calla wurde in Paris geboren und lebt seit 2003 in Berlin. Sie hat unter anderem als freie Korrespondentin für den „Figaro“ gearbeitet. Von 2006 bis2010 berichtete sie als Deutschland-Korrespondentin für die französische Tageszeitung “Le Monde„ und war bis zum April dieses Jahres Chefredakteurin des deutsch-französischen Magazins „ParisBerlin“. Cécile Calla hat Geschichte, Politik und Soziologie studiert und arbeitet jetzt als freie Journalistin in der Hauptstadt. |