Im Interview mit der Redaktion der Bundeswehr spricht sich Generalleutnant a.D.außer Dienst Ton van Loon für eine stärkere Integration der europäischen Armeen aus. Der Niederländer ist einer der Vorreiter der erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen den deutschen und niederländischen Streitkräften. Zuletzt war er von 2010 bis 2013 Kommandeur des 1. Deutsch-Niederländischen Korps in Münster.
Herr General, wie bewerten Sie aus dem „Unruhestand“ die Streitkräfteintegration in Europa?
Heute ist Ton van Loon unter anderem Mentor an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.
Schon in meiner aktiven Zeit als Soldat habe ich mich für eine enge Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen in Europa eingesetzt. Denn ich bin der Meinung, dass wir in Europa endlich mehr Verantwortung übernehmen müssen. Wir können uns nicht länger hinter den Amerikanern verstecken und müssen unsere Verteidigungsanstrengungen selber tragen. Es ist völlig undenkbar, dass hierzu einzelne Staaten alleine in der Lage sind. Nur gemeinsam können wir mehr Verantwortung übernehmen. Angesichts hoher Kosten, hoher Anforderungen und vielleicht auch weil wir die Friedensdividende zu weit getrieben haben, ist diese Zusammenarbeit auch keine freie Wahl mehr.
Beeinträchtigt dieser Zwang zur Zusammenarbeit in der Verteidigung nicht die jeweilige nationale Souveränität?
Die nationale Souveränität ist ein wichtiges Gut. Wenn ich mich jedoch umschaue, muss ich feststellen, dass fast alle europäischen Nationen diese Souveränität in Verteidigungsfragen nur zum Teil besitzen. „Nein“ sagen, können wir ganz souverän. Aber „ja“ sagen, können wir so gut wie gar nicht. Kein Land verfügt hierfür über ausreichende Fähigkeiten und Kapazitäten. Deutschland kann zum Beispiel nicht alleine einen Einsatz durchführen. Die Niederlande schon gar nicht. England und Frankreich können dies vielleicht noch in einigen Maßen, aber auch nur für eine gewisse Zeit und auch nicht in allen Bereichen. Wir müssen unsere Möglichkeiten bündeln, um über entsprechende Fähigkeiten für einen Einsatz zu verfügen.
Deutschland und die Niederlande arbeiten seit über 20 Jahren militärisch eng zusammen. Wie kann die Zusammenarbeit in Europa verbessert werden?
Nehmen wir aus konkretem Anlass das deutsche Panzerbataillon in der niederländischen 43. Mechanisierten Brigade: Für die Niederlande ist dies heute die einzige Möglichkeit über Panzer zu verfügen. Durch die Zusammenarbeit mit Deutschland kann unsere schwere Infanterie das Gefecht der verbundenen Waffen weiter üben – ohne dass dafür große Kosten entstehen. Für Deutschland gilt etwa bei der Marine das Gleiche anders herum. Es hat zwar ein Seebataillon, aber keine echte Marineinfanterie. Die Fähigkeit, diese „Marines“ auch amphibisch an Land zu bringen, bringt die Niederlande ein. In gemeinsamen Operationen können beide Länder auf das gesamte Fähigkeitsspektrum zurückgreifen. Wir müssen auch auf europäischer Ebene unsere Möglichkeiten zur Zusammenarbeit austesten und pragmatisch umsetzen.
Wo sehen Sie die größte Notwendigkeit für eine gemeinsame Fähigkeitsentwicklung?
Wir müssen den Fokus auf Bereiche richten, deren Fähigkeiten wir immer stärker brauchen, aber kaum noch besitzen. Um sie gemeinsam aufzustellen, braucht es keinen Festverbund. Denn wir müssen auch die Möglichkeit haben, Strukturen bei Bedarf wieder zu entflechten. Große Notwendigkeit sehe ich vor allem in der Logistik und bei der Aufklärung. Wenn wir in beiden Bereichen unsere Fähigkeiten gemeinsam aufstellen, haben wir sehr schnell sehr viel mehr davon. Nehmen wir als Beispiel Drohnen. Wir können ja nicht ständig hoffen, dass uns die Amerikaner das liefern – bei allen Souveränitätsproblemen, die das mit sich bringt.
Sollte die enge Zusammenarbeit auch auf andere NATO-Partner ausgedehnt werden?
Wenn alle 28 Länder versuchen, sich gleichzeitig auf eine gemeinsame Linie zu verständigen, dann wird das zehn bis zwanzig Jahre dauern – und die haben wir nicht. Wenn wir nur bilateral vorgehen, also deutsch-niederländisch oder deutsch-französisch, dann kommen wir auch nirgendwo hin. Wir müssen zur Entwicklung besonderer Fähigkeiten Gruppen definieren und zur Teilnahme einladen. Sie sollten flexibel sein und können aus unterschiedlichen Partnern bestehen. Ich kann mir gut vorstellen, die deutsch-niederländische Kooperation auf die Logistik und Aufklärung auszuweiten, um eine Grundlage für andere Partner aufzubauen. Das Lead-Nation-Konzept ist in meinen Augen der richtige Ansatz für eine intensivere Zusammenarbeit.
Wie sehen Sie die deutsche Rolle in diesem Lead-Nation-Konzept?
Deutschland muss sich, ob es das möchte oder nicht, seiner Führungsrolle klar werden. Es ist das einzige europäische Land, das über Geld und Mittel verfügt, um bei der Fähigkeitsentwicklung voranzukommen. Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sprach einmal vom „Führen aus der Mitte“. Vielleicht wäre es besser, wenn man es „Enabling (Ermöglichen) aus der Mitte“ nennen würde. Wenn Deutschland als Lead-Nation den Prozess anstößt und den Aufbau gemeinsamer Fähigkeiten in der Logistik, Aufklärung und auch im Sanitätswesen ermöglicht, dann könnten am Ende alle Europäer davon profitieren. Das heißt nicht, dass Deutschland nicht auch in Kampfkraft investieren sollte – also in Panzer, Jagdflugzeuge oder Schiffe. Ohne die „Enabler“ kommen auch die besten Kampffähigkeiten nicht effektiv zum Einsatz.
Wir haben zu lange Strukturen ohne Inhalt geschaffen. Wir reden sogar über ein europäisches Hauptquartier. Ganz wunderbar! Ich habe nichts gegen ein europäisches Hauptquartier, bin aber sehr neugierig, wer oder was von dort aus geführt werden soll. Wir brauchen dringend Fähigkeiten und nicht nur Strukturen. Wir brauchen Soldaten mit Gewehren, wir brauchen Sanitäter, wir brauchen Aufklärung und wir brauchen vor allem Logistik.
Besonders kostenintensiv und langwierig sind große Rüstungsprojekte. Wie können hier gemeinsame Fähigkeiten entwickelt werden?
Wir brauchen endlich moderne Transporthubschrauber und -flugzeuge. Diese Fähigkeiten können wir nicht national aufbauen. Es wäre gut, wenn wir nicht nur davon reden europäisch zu beschaffen, sondern es auch endlich machen. Der NH 90 ist ein Beispiel dafür, wie es nicht sein sollte. Wir haben ihn gemeinsam beschafft, aber wir haben alle etwas anderes gekauft. Das kostet Geld, das wir nicht haben. Die Panzerhaubitze 2000 ist ein weiteres Beispiel. Deutschland und die Niederlande haben die gleiche Panzerhaubitze gekauft. Wir haben die niederländische modifiziert und nun ist sie nicht mehr kompatibel mit der deutschen Version. Das kann nicht sein, das müsste man verbieten!
Mit den Entwicklungen an der Ostflanke der NATO verschiebt sich der Fokus der Allianz. Wie betrachten Sie die öffentliche Wahrnehmung der Verteidigungsbereitschaft?
Es ist wichtig, dass wir anerkennen, dass Europa im Osten eine geografische Bedrohung hat. Es besteht wieder die Möglichkeit, dass das NATO-Bündnisgebiet angegriffen wird. Die beste Gegenmaßnahme gegen eine territoriale Bedrohung ist eine glaubwürdige Abschreckung. Wenn wir Schulter an Schulter unsere Grenzen schützen, haben wir die Bedrohung im Griff. Solange die in ihrem Bereich bleiben und wir in unserem, ist das Problem gelöst.
Wir müssen uns darüber klar werden, dass die NATO nach dem Kalten Krieg an Abschreckungspotential eingebüßt hat. Europa ist auch da sehr von den USA abhängig geworden. 75 Prozent der Fähigkeiten werden von den Amerikanern eingebracht. Die europäischen Staaten haben die Allianz in der Öffentlichkeit ständig als etwas anderes gesehen. „Wenn es eine Bedrohung aus dem Osten gibt, dann macht das die NATO schon.“ Unsere Gesellschaften haben vergessen, wofür die NATO steht und dass wir selber die NATO sind. Wir müssen uns gemeinsam verteidigen. Machen wir das nicht, fällt die Abschreckung weg.
Die Fragen stellte Tilman Engel.
Informationen zu Generalleutnant a.D.außer Dienst Ton van Loon |
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Seit seiner Verwendung im 41. niederländischen Artilleriebataillon in Seedorf 1981 war Generalleutnant a.D.außer Dienst Ton van Loon immer wieder in die Integration der deutschen und niederländischen Streitkräfte involviert. Von 1995 bis 1998 war er als Stabsoffizier im 1. Deutsch-Niederländischen Korps in Münster für die Integration der Kommandostrukturen verantwortlich. Als Kommandeur der multinationalen Brigade Süd im KFORKosovo Force-Einsatz 1999 und als Operationschef des niederländischen Heeres von 2000 bis 2004 entwickelte er die Kooperation mit der Bundeswehr weiter. Von 2007 bis 2010 war er Chef des Stabes im früheren NATO-Hauptquartier der Alliierten Landstreitkräfte in Heidelberg und ab 2010 schließlich Kommandeur des 1. Deutsch-Niederländischen Korps wieder in Münster. Seit dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst ist Ton van Loon als Mentor für Heeresübungen bei der NATO und an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg tätig. Er ist Träger des großen Verdienstordens mit Stern der Bundesrepublik Deutschland und des Ehrenkreuzes der Bundeswehr in Gold. |